Letzter Eintrag in meinem Jakobsweg-Tagebuch
Wir haben diese Reise des Lebens in den grünen, nebeligen Bergen begonnen. Ein schwerer Aufstieg und irgendwann brach die Sonne durch. Die Aussicht war wunderbar. Das ist die Geburt. Es ist schwer. Ich sehe nichts und werde dann in eine Welt voller Wunder hinein geworfen. Ab jetzt ist alles neu und voller Abenteuer. Wie das Leben eines Babys oder kleinen Kindes ist auch die Welt der Pilgerin neu, bunt und voller Herausforderungen. Jeder Tag bringt neue Übungen und Überraschungen. Wie funktioniert das Laufen? Ich lerne gehen. Das Essen und Schlafen bekommen ihren elementaren Wert (zurück). Gleichzeitig lerne ich, meine Lasten zu tragen und mit den anderen Menschen (Pilgern) ein soziales Leben zu führen. Und ich lerne Sprechen: Pilger-Multi-Language. Die Landschaft ist grün, abwechslungsreich und voller Früchte in dieser Pilger-Jugendzeit.
Je älter ich werde – je länger ich unterwegs bin – desto mehr wird dieses Leben zur Routine. Die Landschaft wird karger. Die Wege werden gerader. Die Überraschungen werden weniger. Manchmal macht sich Langeweile breit. Es wird zur Herausforderung, diese Routine zu ertragen und jeden Tag aufs Neue meine Pilgerarbeit zu leisten – die vorgesehenen Kilometer zu gehen. In der Mitte des Lebens sind die Bahnen eingefahren. Arbeit und Familie beanspruchen alle verfügbaren Kräfte. Der Alltag ist zeitweise eintönig und chaotisch zugleich; die Zeit rast dahin. Meine Lebenszeit gleitet mir durch die Hände. Die Meseta ist karg. Ich sehe eine endlose Weite. Ich laufe und merke nicht, wie ich vorwärts komme. Und doch haben auch diese Weite und Einsamkeit eine Faszination.
In der späten Mitte des Lebens tauchen auf einmal wieder Berge auf. Mit 50 Jahren frage ich mich: „Soll das alles gewesen sein?“ Auf einmal, nach dem Glanz von Leon mit seiner das tiefste Innere berührenden Kathedrale (es ist wie eine Feier zum 50. Geburtstag), wandere ich weiter mit dem Blick auf grüne Berge. Im Kopf und im Herzen noch das Leuchten der Fenster der Kathedrale weiß ich: „Da kommt noch etwas…“.
Zuerst geht es weiterhin durch die Ebene. Doch die Wege werden gerölliger. Die Steigungen wieder spürbarer. Plötzlich bietet dieser Weg wieder Abwechslung und manchmal sogar Überraschungen. Er wird schwerer, jedoch spannend. Ab und zu kann die Pilgerin anhalten und in die Ebene ihres Lebens zurück schauen. Am Cruz de Ferro zieht sie Resümeé. Vielleicht beginnt nun, in diesem wieder grünen Abschnitt des Weges, die Ernte. Vielleicht durchschaut die Pilgerin nun ein paar Muster des Lebens. „Akzeptiere, was Du nicht ändern kannst“. „Der Weg kann nichts dafür. Er liegt einfach nur da“. „Geh langsamer – dann kommst Du weiter“.
Nach dem schweren Aufstieg zum Camino duro bieten sich herrliche Ausblicke. Anstrengung lohnt sich. Es lohnt sich, einen Weg zu gehen, den nicht alle gehen.
Nach dem schweren und nebeligen Aufstieg ohne Sicht nach O´Cebreiro streift mich der Hauch Gottes in dieser Jahrhunderte alten Kirche.
Ich laufe durch grüne Wälder und fange an, die hinter mir liegende Öde der Meseta zu lieben. Sie gehört zu diesem Weg. Zu diesem Leben. Ich stelle fest, wie wichtig sie für meinen Weg war. Und ich merke, dass es manchmal angenehm einfach ist, immer nur geradeaus gehen zu müssen.
Zum Ende hin ist mir der Weg wieder aus der Hand genommen: Menschen, die ich mir nicht ausgesucht habe (Turnschuhpilger und Tourigrinos) bestimmen den Weg. Wenn ich nicht aufpasse im Leben, wird mir im Alter ein Stück meiner Selbstbestimmtheit genommen. Doch dazwischen leuchtet das Licht meiner Freunde, die schon einen langen Weg mit mir gegangen sind und meine Höhen, meine Tiefen und Abgründe kennen.
Das Ende. Der Einmarsch in Santiago kommt trotz des langen Weges unvermittelt. Heiß ersehnt – mit Bangen erwartet – und doch nicht zur rechten Zeit. Und anders, als ich es mir vorgestellt und gewünscht habe. Mein Körper ist schon da, meine Seele hinkt hinterher. Erst im Gottesdienst kommt sie bei mir langsam an.
Die Zugabe ist der Weg nach Finesterre. Sich noch einmal aufraffen. Dabei die Zwänge abschütteln. Sich anstrengen und feiern – wie an dem Abend bei Zorro. Akzeptieren, wann Lust und Kraft ein Ende haben. Dann nimmt die Pilgerin das Taxi zum Meer. Mit ein wenig Bedauern und Scham über die eigene Schwäche. Die Belohnung: Der Abend am Leuchtturm und das Bad im Meer – annehmen und genießen können.
Es war ein erfüllter Weg. Ich bin ihn so gut gegangen, wie ich konnte. Manches Mal habe ich nicht auf mich, sondern auf Andere gehört. Bin schneller gelaufen, als ich wollte. Nicht geblieben, wenn ich Ruhe brauchte. Alle meine Muster haben mich begleitet. „Du bist zu langsam“. „Die Anderen sind besser.“ „Die andere Alternative wäre sicher besser gewesen – meine Entscheidung war bestimmt falsch“. „Ich nerve meine Umwelt“. …Ich fürchte, sie sind auf diesem Weg nicht verschwunden. Ich bin gespannt, ob der Weg ab und zu auf meinem Lebensweg eine Rolle spielen wird.
Und morgen ist ein neuer Tag. Wir sehen uns…Buen Camino.